Finale Version

Story

Die Hülle der Schriftrollen wog schwer in seinen Händen. Es sah aus, als sei sie bereits durch Millionen Hände gegangen, abgegriffen und uralt. Die Schriftseiten in ihrem inneren waren jedoch in so gutem Zustand, daß Toshiro sich fragen mußte, ob sie nicht neueren Ursprungs waren. Es sollte ja vorkommen, daß gerade solche Pergamente bewußt auf alt gemacht wurden. Sie verkauften sich besser, da das Geschichtsbewußtsein zunehmend stieg. Aber trotzdem schloß er diese Möglichkeit aus: In einem so kleinen und alteingesessenen Buchladen ging er davon aus, daß es sich hier um keinen Betrug handelte. Er hielt also wirklich ein Original in den Händen. Vorsichtig schaute er sich um, ob der etwas kauzige Ladenbesitzer etwas dagegen hatte, daß er sich aus dem Regal unverkäuflicher Bücher und Dokumente diese Schriftrollen herausnahm, um sie zu lesen. Er hatte sie durch Zufall hinter einem alten 24 Bändigen Nachschlagewerk entdeckt.

Wahrscheinlich hatte er nur irgendetwas gesucht, ohne zu wissen, was. Das kam bei ihm öfter vor, und wenn er ehrlich zu sich war, mußte er sich eingestehen, daß er keinerlei Halt in seinem Leben verspürte, eine Orientierung suchte. Momente der Liebe, flüchtig, nie für eine kleine Ewigkeit ... der Platz in der Firma, für den er nie würde kämpfen müssen. Seine Zukunft: Absolut gesichert und unklarer denn je. Eigentlich wartete er darauf, daß eines Tages etwas in sein Leben trat, was ihn dazu bewegte sich dafür einzusetzen. Nie hatte er eine solche Erregung verspürt, wie an dem Tag, als er sie zum ersten Mal öffnete und begann, die Geschichte eines fremden Landes zu lesen. Die Geschichte wurde von einem Mann erzählt, der aus Japan kam. Es war eine Art Erlebnisbericht. Diese Welt schien Japan zu sein; auf der anderen Seite war sie aber auch so fremd.

Den losen Seiten, von denen die Sätze seltsam verzerrt aussahen, waren sogar einige Karten beigefügt, kunstvoll gezeichnet. Er suchte in sämtlichen Atlanten und Karten nach ähnlichen Ländern oder Stadtnamen, wie sie dort verzeichnet waren....vergebens. Dieses Land schien tatsächlich ein Land der Fantasie zu sein und doch war die Geschichte so lebendig geschrieben, als hätte er sie selbst erlebt. Er sah die Hügel- und Bergketten, die weiten Wüsten und endlosen Meere, sah seltsame Fabelwesen, die vor seinem geistigen Auge vorbeizogen, sah immer wieder das Gesicht einer schönen Frau. Diese Frau hatte er nie zuvor in seinem Leben gesehen, aber in dieser Welt erwachte sie zum Leben. Toshiro hatte schon viel von Fantasiewelten aus Büchern gehört und in Amerika wurden sogar Gesellschaftsspiele verkauft, die hauptsächlich in fremden Welten spielten. Dort konnte man in das Reich der Träume flüchten.

Hier schien das anders zu sein. Er begann regelrecht mit einem Studium dieser neuen Welt, war fasziniert von den Landstrichen, von den Menschen, den Göttern und von der Frau. Lange saß er abends noch in dem alten Buchladen und verglich die Aufzeichnungen mit dem Kartenmaterial. Nicht alle Städte fand er, doch bald konnte er sagen, daß er sich einigermaßen auskannte mit dem Spiel der Götter und den Schicksalen der Menschen auf dieser Welt. Er kam mindetstens drei Mal in der Woche in den Buchladen am anderen Ende von Tokio und sah Länder, die es nicht gab. Heute wollte er die Geschichte wieder durchlesen und der alte Ladenbesitzer, der ihn mittlerweile schon kannte, schloß leise die Tür, um nach Hause zu gehen.
Es war Sonntag, und Toshiro hatte viel Zeit.

Er begann zu lesen:

Verrückte Welt

Ich schlug die Augen auf und blickte in das Gesicht eines uralten Mannes. «Ich wusste, dass du kommst, mein Sohn», sagte er mit einer weichen Stimme. «Wo bin ich?», fragte ich ihn. Alles war so fremd. Ich befand mich in einem kleinen Raum, der auf den ersten Blick sehr gepegt aussah. Er war mit kleinen Matten ausgelegt und spartanisch eingerichtet. «Ich kann mich an nichts erinnern.» «Das weiß ich, mein Sohn. Der Alte ist gegangen, der Neue gekommen. Es ist ein ewiger Kreislauf.»
Er sprach in Rätseln. War er verrückt? Wo zum Teufel war ich? Das Letzte, an das ich mich erinnern konnte, waren die beiden Statuen im Museum. Die uralten steinernen Augen, die mich so lebendig anstarrten. Ich konnte ihnen nicht widerstehen und ging auf sie zu. Mitten zwischen ihnen tat sich ein gewaltiger Schlund auf, und mir schien, als würde ich in einen Abgrund fallen. Dann verlor ich das Bewusstsein. Ich fand mich an einem unbekannten Strand wieder. Der Alte fand mich wohl dort und nahm sich meiner an.

«Du musst jetzt schlafen! Du hast eine lange Reise hinter dir und bist sehr geschwächt.» Ich konnte mich nicht entsinnen, lange gereist zu sein. Meiner Meinung nach war ich überhaupt nicht gereist. Die einzige Reise, die ich unternahm, war der Flug nach Tokio, wo ich auf der Konferenz der japanischen Staubsaugervertreter erwartet wurde. Mein Vortrag! O Gott ! Ich muss doch meinen Vortrag halten! Wie spät war es wohl? «Wie spät ist es?» fragte ich den Mann und deutete auf mein linkes Handgelenk. Er sah mich fragend an. «Zeit», sagte er, «spielt keine Rolle in unserem Land.» Idiot, dachte ich. Ich musste es mit einem Verrückten zu tun haben. Normal war das jedenfalls nicht. Warum lag ich eigentlich noch hier? Meine Kräfte schienen zuzunehmen. Jedenfalls dachte ich es, wurde aber bald eines Besseren belehrt, als mich ein unangenehmes Schwindelgefühl daran hinderte, aufzustehen. So sank ich in einen unruhigen Schlaf.

Ich träumte von gewaltigen Meeren, riesigen Gebirgsmassiven, endlosen Wüsten mit sengender Sonne, Armeen, die sich bekämpften und schrecklichen Drachen, die alles vernichteten. Die Bilder waren völlig ohne Zusammenhang, jedoch hatte ich sie schon einmal irgendwo gesehen.

Als ich aufwachte, war ich allein im Zimmer. Mein Kopf schmerzte, als wäre er mit einem kiloschweren Hammer bearbeitet worden. Irgendwo hatte ich doch meine Aspirin-Tabletten. Da stellte ich fest, dass meine Hose fehlte. Alle meine Sachen waren weg. Der Alte hatte sie mir weggenommen. Dieb!

Ein raschelndes Geräusch ließ mich aufhorchen. Da schob sich eine Wand bei Seite und der Alte trat herein. Er schien sichtlich vergnügt über meine Verwirrung und fragte mich, ob mein Geist wieder klar sei. Genau das fragte ich ihn auch und forderte mein Eigentum zurück. «Oh , ihr habt nichts besessen, als ich euch fand. Niemand betritt Nippon mit Gegenständen der sterblichen Welt. Aber hier habt ihr einen Schurz, der euch erst einmal genügen muss. Mehr kann ich euch nicht bieten.» «Nippon?» fragte ich entgeistert. «Wieso Nippon? Ich denke, ich bin in Tokio! Also langsam ... wie weit ist es bis Tokio? Ich habe eine wichtige Konferenz, der ich beiwohnen muss!»

«Die Konferenz kann warten», entgegnete er mir. «Ihr habt jetzt andere Aufgaben ...» «Die Konferenz kann nicht warten. Sie ist von großer Bedeutung für mich!» rief ich. «Ich zahle euch viel Geld dafür, wenn ihr mich zurück bringt.» «Was ist schon Geld! Ihr habt doch gar kein Geld! In dieser Welt gilt euer Geld sowieso nichts. Unsere Währung wird in Goldstücken gezählt.» Er reichte mir einen kleinen Lederbeutel, den er aus den Falten seines Gewandes hervor holte. Ich öffnete ihn und zählte 300 kleine goldene Münzen.

«Kauft euch davon etwas zu essen und Kleidung», erklärte er. Ich war ein reicher Mann. 300 Goldmünzen waren umgerechnet ... na ja, jedenfalls eine Menge Geld. Ich würde es mit Sicherheit nicht für Nahrungsmittel oder Hosen ausgeben. Alter Trottel! «Wie komme ich in die nächste Stadt?» fragte ich ihn. Ich hoffte nur, dass ich möglichst bald von hier verschwinden könnte.

«Geht nach Süden. Dann werdet ihr bald die Stadt Watashibune an der Südküste erreichen.» Das musste ja sehr weit von Tokio entfernt sein. Die Stadt war mir überhaupt nicht bekannt. «Das hört sich ja gut an, nur wo ist denn hier Süden?» «Wenn ihr aus meinem Haus tretet, so folgt dem Pfad. Er wird euch sicher dort hin geleiten.»

«Sehr schön», sagte ich, «dann fahrt mich bitte dort hin.» Der Alte zog die Augenbrauen in die Höhe ... ich verstand: kein Auto! Gequält erwiderte ich: «Habt Dank, alter Mann.» «Mein Name ist Toshi-no. Ihr werdet finden, was ihr sucht, Shimo-san.» Woher wusste er meinen Namen? Sicher aus meiner Brieftasche. Ich hatte jetzt immerhin ein gutes Geschäft gemacht. Die Goldmünzen waren viel mehr wert als alles, was ich überhaupt jemals besaß.

Ich machte mich also auf den Weg, und schon bald verschwand Toshi-nos Hütte hinter großen Sanddünen. Die Landschaft war sehr karg und wüstenähnlich, doch ich erkannte tatsächlich einen Pfad, der in die angegebene Richtung führte. Nach etwa zwei Meilen fragte ich mich, ob ich nicht etwas Wasser hätte mitnehmen sollen, und nach einer weiteren Meile redete ich mir ein, dass Toshi-no mich herein gelegt hatte. Aber vielleicht hatten wir beide nur andere Vorstellungen von Entfernungen. Jedenfalls konnte ich mich nicht entsinnen, dass Japan eine so große Wüste hatte, und es hatte überhaupt nicht den Anschein, dass ich mich einer Küste näherte. Meine Kehle war wie ausgetrocknet. Ich setzte mich auf den Boden und überlegte, ob ich nicht umkehren und den Alten wieder aufsuchen sollte.

Da hörte ich in der Ferne großes Geschrei. Es schien, als ob jemand um Hilfe rief. Die Schreie kamen direkt aus Richtung der großen Düne, auf die der Pfad zulief. Schwerfällig stapfte ich den Sandhügel hinauf. Dort bot sich mir ein Anblick, wie ich ihn nie zuvor in meinem Leben erlebte: Ich blickte auf zwei junge Samurais, so wie sie schon vor 400 Jahren gelebt haben mussten. Noch seltsamer war, dass sie mit einer riesigen Spinne kämpften. Das war ja absurd. Ich hatte schon von Fata Morganas und anderen Luftspiegelungen gehört, aber das konnte hier nicht zutreffen, da solche Phänomene reelle Bilder zeigten. Was ich hier sah, gehörte in die Welt der Fantasie oder Albträume. Spinnen jagten meines Wissens nur Insekten und ähnliches Getier. Nie hatte ich gehört, dass sie auch Menschen angriffen.

Der Kampf tobte unterdessen weiter. Ich entschloss mich, den Beobachter zu spielen und sah, wie das Ungeheuer seine Fangzähne tief in den Schwertarm eines Samurai grub. Der andere lag bereits am Boden und hielt sich den Bauch, aus dem eine große Wunde klaffte. Schwer verletzt versuchte sich der Samurai mit seinem Schwert zurückzuziehen. Da geschah etwas Sseltsames: Ich sah, wie sich der Mann mit der Bauchwunde allmählich auflöste. Es blieb nichts zurück als ein großer Blutfleck am Boden. Der Kämpfer, der von den beiden noch zurück blieb, rannte derweil um sein Leben, verfolgt von dem behaarten Monster. Seltsamer Weise verspürte ich keine Lust, dem Samurai zu helfen!

Als die Beiden in der Ferne verschwanden, machte ich mich langsam wieder auf den Weg. Viele Fragen drängten sich mir natürlich auf. Wie konnte ein Mensch sich in Luft auflösen? Woher kam das Monster? Warum diese Verkleidungen? Wir lebten schließlich schon im 20. Jahrhundert. Die einfachste Erklärung dafür war, dass es sich um eine Halluzination handeln musste. Mein Psychiater würde sich wieder einmal eine komische Geschichte anhören müssen, wenn ich nach Hause kam ...

Hier und da waren jetzt einige Palmen zu sehen, was mich stutzig machte. Ich musste sehr weit nach Süden geraten sein. Vor mir türmte sich jetzt eine gewaltige Düne auf und ich kletterte hinauf, um einen besseren Überblick zu bekommen. Von oben sah ich auf das Meer.

Ja, genau! Das Meer. Ich rieb mir die Augen und traute ihnen nicht. Ich öffnete sie und blickte auf eine kleine Bucht, umgeben von Palmenhainen. Viele Fischerboote befanden sich draußen auf dem Meer. Sie waren von jener Bauart, wie man sie heute nur noch in Museen findet. Die Stadt, von der Toshi-no berichtete, war eher ein befestigtes Fischerdorf. Überall liefen Männer und Frauen in altertümlichen Gewändern herum. Jetzt wusste ich, wo ich war!

Es musste der neue Film von Akawi Sojara sein, der in den Medien angekündigt war. Das musste es sein! Es konnte gar nicht anders sein. Nur sah ich keine surrenden Kameras, geschweige denn ein Filmteam. Plötzlich fiel mir ein, wie ich aussah. Ich hatte ja nur einen Lendenschurz an. Nun, damit würde ich jedenfalls nicht in der Menge der Statisten auffallen!

Allmählich machte ich mich daran, die Düne herunterzuklettern. Als ich am Fuß des Hügels anlangte, stand ich vor der Dorfmauer. Niemand beachtete mich, was mich nicht überraschte. Anscheinend wurde gerade gedreht, denn alle Leute gingen eifrig ihren Geschäften nach. Die Kamera vermutete ich auf den entfernten Hügeln. Da ich nicht unnötig auffallen wollte, spielte ich einfach mit. Möglichst unauffällig schlenderte ich zum Stadttor. Dort schauten mich zwei Stadtwachen skeptisch an. Sie spielten ihre Rolle gut, ließen mich die Stadt jedoch betreten.

Ich gelangte auf eine Art Vorplatz, auf dem sich alle möglichen Leute tummelten. In den Ecken saßen verkrüppelte Bettler, und Frauen liefen mit kleinen Schritten über die Straße. Überall priesen Händler ihre Ware an. Da gab es Reis, getrockneten Fisch und seltsam aussehende Früchte, die ich nicht kannte. Wahrscheinlich bestanden sie aus Plastik und waren nur Dekoration. Ich beschloss, meine Rolle gut zu spielen und ging auf einen Händler zu.

«Seid gegrüßt, o Händler», begann ich, in der Hoffnung, der Statist würde mitspielen. «Konnichi-wa, Fremder. Hegt ihr Interesse an meinen Früchten?» «Oh, sie sehen herrlich aus. Ich gebe euch 200 Yen dafür.» Er schaute mich erwartungsvoll an, schien aber nicht zu verstehen. Da fiel mir ein, dass der Alte ja meine Brieftasche gestohlen hatte. Ich besaß nur den Beutel mit den 300 Goldstücken. Es widerstrebte mir jedoch, für eine Plastikfrucht ein Goldstück zu opfern. Irgendwo hörte der Spaß schließlich auf. Andererseits hatte ich Hunger und Durst, also schlug ich vor: «Nun gut. Ihr seid ein harter Feilscher! Ich gebe euch ein Goldstück dafür.» «Ein Goldstück?», fragte er mich mit einem zunehmend verdutzten Gesichtsausdruck. «Ich nehme dafür 30 Goldstücke und nicht weniger!» Damit hielt er die Hand auf. Das war ja eine Frechheit, für eine Plastiktomate ein kostbares Goldstück zu verlangen. Allmählich wurde ich wütend. «Für diese Frucht aus Plastik zahle ich euch EIN Goldstück und nicht mehr!» rief ich. Unser Handel hatte in der Zwischenzeit schon mehrere Schaulustige herbei gelockt. Der Händler entgegnete entrüstet: «Meine Früchte sind nicht aus Plastik! Ich kenne das Land ja noch nicht einmal! Ich verkaufe seltene Früchte aus Minami-kado! EIN GOLDSTÜCK! Dann könnte ich euch meine Ware ja gleich schenken!»

Er begann sich nach der Art der Händler in die Sache hinein zu steigern. Ich verstand seine Aufregung nicht und versuchte, mich möglichst unauffällig aus dem Staub zu machen. Doch jetzt waren auch die beiden Wachen auf unseren Streit aufmerksam geworden und kamen herbei. Sie senkten ihre langen Stangenwaffen und richteten die Metallspitzen auf meine Brust. Das war zuviel!

Wütend rief ich den Wachen zu, dass ich den Regisseur sprechen wollte. Ohne Wirkung! Eine Wache fragte mich: «Wo kommt ihr her, Fremder? Ihr seid mir schon am Tor aufgefallen.» Ich stellte mich vor: «Mein Name ist Shimo. Ich komme aus Osaka und bin auf einer Geschäftsreise nach Tokio.» «Diese Namen sagen mir nichts», entgegnete die Wache. «Was sind eure Geschäfte?» Ich beschloss, ihm die Wahrheit zu sagen, um endlich zu beweisen, dass ich nicht in diesen Film hinein gehörte. «Ich verkaufe Staubsauger.»

Die Menge fing an zu murmeln und zu diskutieren, was wohl «Staubsauger» wären. Irgend jemand rief von hinten «Scharlatan» und «Ketzer!» Andere Stimmen wurden laut, die forderten, ich sollte aus der Stadt vertrieben werden, was mir nur recht war. Da erhob sich eine Stimme über die anderen: «Lasst mich durch! Platz da!» Ein junger Krieger erschien und sprach mit der Wache: «Lasst ihn gehen. Ich bürge für ihn. Es ist mein Neffe aus Funatabi, der zu Besuch ist.» «Er sagte, er käme aus Osaka», warf die Wache ein. «Dort lebte er, bevor er nach Funatabi kam.» «Nun gut, Kamisori-san» ? die Waffen erhoben sich ? «pass nächstes Mal besser auf ihn auf. Wir mögen keinen Streit in der Stadt.»

Die Menge begann sich zu verlaufen und Kamisori trat an mich heran. «Hier könnt ihr nicht bleiben. Ich werde euch mit in mein Haus nehmen. Folgt mir!» Mit diesen Worten schritt er voran und bog bald in eine Seitengasse ein. Ich war froh, endlich aus dieser Situation heraus zu kommen und lief ihm hinterher. Er legte ein zügiges Tempo vor und ich hatte Mühe, mit ihm mitzuhalten.

Schließlich hielt er vor einem kleinen Haus, kniete nieder und schob eine Shoji-Wand bei Seite. Er lud mich ein, in das Haus zu gehen, was ich schließlich auch tat. Ein süßlicher Geruch umfing mich in dem halb dunklen Raum. Kamisori deutete auf eine Matte in der Mitte des Raumes. Ich hockte mich hin und sah mich im Zimmer um. An einer Wand stand ein großes Bassin mit Wasser, daneben eine kleine Kommode mit vielen Schriftrollen. Scheinbar hatte ich es mit einem Gelehrten zu tun. Nachdem Kamisori sich gesetzt hatte, begann ich: «Was ist hier los? Wo bin ich eigentlich? Wieso war der Händler so aufgeregt? Warum hat man mich mit Waffen bedroht? Wo ...»

«Trinkt eine Tasse Tee mit mir, Shimo-san. Ich kann euch nicht alle Fragen auf einmal beantworten.» Damit holte er eine Kanne Tee vom Feuer und füllte zwei kleine Tonschälchen. Ich hatte so etwas schon einmal in Nagoja erlebt, als ich mit Freunden einer Teezeremonie bei wohnte. Kamisori reichte mir ein Schälchen. Nach einer Weile begann er:

«Ihr seid hier nicht in eurer Stadt, Shimo-san. Nicht in eurer Stadt, nicht in eurem Land, nicht in eurer Welt. Ihr seid durch die Astralebene hindurch in unser Land gekommen, in eine Welt jenseits der Zeit, umgeben von einem unendlich tiefen Abgrund. Hier gelten andere Gesetze als auf der Erde. Diese Welt ist eine Welt im Reiche der Fantasie, wie einige Leute behaupten. Man nennt sie «Nippon» ? das Land der aufgehenden Sonne, das Land der alten Götter Japans.»

Planlos

Plötzlich passierte es! Ich verbrannte mir die Zunge. Kamisori fuhr fort: «Hier sind die 300 Goldstücke, die ihr besitzt, so viel wert, dass ihr euch gerade etwas zu essen, Kleidung oder Waffen kaufen könnt.» «Waffen? Ich brauche keine Waffen!» «Ihr braucht sehr wohl Waffen, denn nicht jeder ist euch wohl gesonnen. Die Szene am Marktplatz hätte für euch ebenso gut übel ausgehen können. Seht euch vor! Wenn ihr mein Heim verlasst, dann sorgt dafür, dass euch solche Sachen nicht wieder passieren. Ich kann euch künftig nicht mehr helfen.» «Wer seid ihr?» fragte ich ihn. «Ich bin der Heilkundige der Gegend. Toshi-no gab mir den Rat, mich eurer anzunehmen. Er meinte, ihr wäret ziemlich durcheinander. Verständlich, nach solch einer Reise.» «Ihr habt mit Toshi-no gesprochen?» fragte ich, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass der alte Greis vor mir die Stadt erreicht hatte.

«Ja. Es gibt viele Möglichkeiten, mit Leuten zu sprechen. Nicht alle sind euch bekannt. Toshi-no und ich stehen mittels einer magischen Kugel in Verbindung.» «In unserer Welt nennt man sie Telefon», sagte ich spöttisch. Aber irgendwie begann ich ihm zu glauben. Seine Geschichte würde viele Dinge erklären, die mir bis jetzt widerfahren waren. «Tel-ef-on?» fragte Kamisori. «Vergesst es! Was, schlagt ihr vor, sollte ich jetzt machen? Eigentlich habe ich keine Lust, mich hier noch länger aufzuhalten.» «Oh, ich verstehe. Ihr wollt in eure Welt zurückkehren ... Ja, also ich weiß nicht, ob das geht. Viele zogen aus, um wieder zurück zu finden, doch niemand schaffte es. Jedenfalls ist es mir nicht bekannt.»

Das waren ja schöne Aussichten. Gefangen in einer Welt, von der es keine Rückkehr gab. Ich konnte aber nicht hier bleiben. Es musste einen Weg geben, um zurück zu kommen ? genauso, wie es einen Weg gab, der mich hierher brachte. Ich musste ihn finden. Für immer auf dieser Welt zu bleiben, stellte ich mir übel vor. Ich war ein Mann des zwanzigsten Jahrhunderts. Nur: Um den Weg zurück zu finden, brauchte ich Informationen über Nippon.

«Erzählt mir von dieser Welt, Kamisori», sprach ich. «Oh, Nippon ist eine große Plattform im Universum. Wenige waren an seinen Grenzen, aber die, die zurück kamen, erzählten von einem großen Abgrund, in den sich das Meer ergießt. Es gibt verschiedene Klimazonen. Wir leben hier in der gemäßigten Zone, weiter oben im Norden erstrecken sich riesige Gletscher und Eisberge. Dort befindet sich das Land der Ubas, der Eishexen. Viele dunkle Geschöpfe hausen in einer Burg namens Yugure, die von Dämonen bewohnt wird. Wenn ihr über das Meer nach Süden fahrt, so gelangt ihr auf den Kontinent der Sonne. Die Erzählungen, die uns aus dem entlegenen Süden erreichten, widersprachen sich meist. Einige berichteten von einem brennenden Land, andere von dem Land des schwarzen Nebels. Ich war nie darauf aus, dem nach zu gehen.»

Das konnte ich gut verstehen. Kamisori erzählte einiges über diese fremde Welt. Es gab vier große Burgen der Götter. Davon stand die größte Burg im Norden. Hier sollte Benten leben. Benten war die Schöpferin der Welt. Plötzlich kam mir der Gedanke, diese Göttin einmal aufzusuchen. Vielleicht konnte sie mir helfen. Was blieb mir auch anderes übrig, als diese Idee im Kopf zu behalten, hatte ich doch sonst kein anderes Ziel vor mir. Kamisori erzählte viel und bot mir schließlich am späten Abend an, die Nacht in seinem Heim zu verbringen. Dieses Angebot nahm ich natürlich dankend an. Erst spät schlief ich ein.

Am nächsten Morgen weckte er mich sehr früh und meinte, ich sollte mich bald auf den Weg in die Stadt machen, wo ich mich für eine lange Reise rüsten sollte. Ich berichtete ihm von meinem Gedanken, das Schloss der Göttin Benten aufzusuchen, und fragte ihn, welchen Weg ich einschlagen sollte. «Das ist schwer zu sagen. Ich rate euch, die Küste entlang zu gehen. Dann werdet ihr bald an die Mündung des Flusses Kawa kommen. Folgt dem Flusslauf in Richtung Norden, wo ihr bald zur Burg Takedo kommt und die Stadt Akuji seht, die in ihrer Nähe liegt.» «Habt Dank, Kamisori-san. Ihr habt mir sehr geholfen!» «Lebt wohl, Shimo-san. Mögen die Götter euch beschützen!» Das hoffte ich auch, denn sonst würde ich meine Reise umsonst machen. Ich verließ also das Haus meines Retters und begab mich in die Stadt.

Watashibune wirkte wie ausgestorben, als ich aus dem Haus trat. Kein Wunder, denn die Sonne ging gerade auf. Ich bog rechts in eine breite Straße ein, wahrscheinlich die Hauptstraße, und hörte ein Geräusch, das aus einer alten Schmiede zu kommen schien. Auf der linken Seite lag ein Haus, aus dem die Geräusche kamen, und ich sah durch die offene Tür einen Mann in Mönchskutte ein glühendes Stück Metall bearbeiten. Als er mich bemerkte, verbeugte er sich. Ich hatte so etwas schon einmal in alten Samuraifilmen gesehen und versuchte, die Geste zu erwidern.

«Bei mir bekommt ihr die feinsten Waffen in Watashibune. Habt ihr Interesse, einige zu erstehen?» fragte mich der Mönch. «Nun ... ich wollte mich eigentlich nur umschauen», entgegnete ich. «Welche Waffen führt ihr denn?» Nun wurde der Schmied geschäftig. Er ging zu einem Regal und nahm eine große Stangenwaffe herunter. «Dies hier», begann er zu erklären, «ist eine Sasumata. Der beste Stahl der Gegend und Fingerfertigkeit am Schleifstein machen sie zu einer furchtbaren Waffe.» Die Waffe erinnerte mich an die Wache, die mich mit solch einer gebogenernKlinge bedroht hatte. Sie war sicher ein gefährlicher Spieß. «Was kostet sie?» fragte ich neugierig. «1.450 Goldmünzen», antwortete der Händler. Ich dachte an den Vorfall mit der Plastikfrucht und beschloss, diesmal keinen Ärger zu provozieren. «Ich danke euch für eure Freundlichkeit, aber ich habe im Augenblick nicht soviel bei mir. Erlaubt mir, ein anderes Mal wieder zu kommen.»«Selbstverständlich. Aniwoji ist stets zu euren Diensten.»

Wieder die Verbeugungszeremonie. Als ich die Schmiede verließ, atmete ich auf. Aber woher sollte ich soviel Gold bekommen? Doch ich ließ mich nicht so leicht entmutigen. Nach wenigen Metern kam ich wieder auf den Marktplatz. Mein erster Gedanke galt dem Obsthändler, dem ich eigentlich nicht wieder begegnen wollte, und ich schaute mich vorsichtig um. Er war nirgends zu sehen. Schnell ging ich die Hauptstraße hinunter. In der Ferne schimmerte das Meer rot in der aufgehenden Sonne. Dort musste der Hafen liegen. Ein Greis kam mir von dort entgegen und beobachtete mich misstrauisch. Ich verbeugte mich und sprach ihn an: «Verzeiht, alter Mann, ich bin gerade in Watashibune angekommen und suche einen Waffenhändler. Könnt ihr mir sagen, wo ich einen finde?» «Das kann ich», krächzte er. «Geht zu Aniwoji. Er ist der einzige Waffenhändler in Watashibune, den ich kenne. Er macht gute Waffen aus edlem Stahl.» «Vielen Dank. Ihr habt mir sehr geholfen.»

Sehr gut! Von dem kam ich gerade. Also musste ich mich wohl ohne Waffe auf den Weg machen. Ich überlegte, was man noch mit auf die Reise nehmen musste ... Natürlich etwas zu essen und zu trinken! Der Alte war schon weiter gegangen, also lief ich ihm hinterher. «Wo bekomme ich etwas zu essen?» platzte ich heraus. Er musterte mich streng und antwortete: «Folgt mir, o Hilfloser. Ich führe euch zu Chumoko, die es versteht, euch ein besonderes Mahl zu bereiten.» Wir gingen die Straße langsam wieder hinauf. Wenn ich sage, wir gingen, so war das eine Übertreibung. Wir schlichen, da ich mich dem Tempo des Alten anzupassen hatte. «Wie heißt ihr, mein Junge?» fragte er nach einer Weile. «Man nennt mich Shimo.» «Woher kommt ihr, Shimo-san?» «Aus Osaka, einer Stadt, die weit von hier liegt.» «Ich bin zwar weit gereist in meinem Leben, doch diese Stadt ist mir nicht bekannt.» Woher auch! «Wohin soll eure Reisen denn führen, Shimo-san?» fuhr er fort. Wie hieß doch gleich die Burg ? «Nach Taka-du», antwortete ich. Der Alte begriff erstaunlich schnell. «Ah, Takedo. Nun, ihr werdet eure Gründe haben.» Er deutete auf ein langgezogenes Haus und meinte: «Wir sind da. Tretet ein.»

Ich schob die Shoji-Tür auf und blickte in einen Raum, der scheinbar ein großes Esszimmer war. Überall standen niedrige Tische und lagen Sitzkissen. Eine überaus hässliche Frau erschien am anderen Ende des Raumes. Sie war in blaue Gewänder gehüllt und besaß eine weiß-bläuliche Hautfarbe. «Ich bin Chumoka», krähte sie mit einer Stimme, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Als sie näher kam, wurde ich von einer eisigen Luftwolke erfasst. «ÄIch ... äh ... ich möchte etwas zu essen haben», brachte ich stotternd hervor. Sie verzog ihr Gesicht zu einer schrecklichen Grimasse. Die Augen verengten sich zu Schlitzen, die Nase blähte sich auf und ihre Mundwinkel verzogen sich bis an die Ohren. Sie schien zu lächeln. Mir war alles andere als zum Lachen zu Mute, und ich erwiderte schnell: «Ich bin in Eile ... Könntet ihr es bitte einpacken?» «Aber selbstverständlich», gluckste sie und verschwand hinter einem Vorhang. Ich atmete auf. Der Alte war nirgends zu sehen; er war sicher sofort getürmt. Beladen mit vielen kleinen Päckchen, Paketen und einem kleinen Beutel, der die Päckchen wohl aufnehmen sollte, kehrte sie zurück. Wir handelten ziemlich schnell einen Preis von 90 Goldstücken aus, und ich sah zu, dass ich aus dem Haus kam. Dies war meine erste Begegnung mit einer Uba, einer Eishexe.

Draußen hatte die Sonne schon ein gutes Stück vom Himmel erobert, als ich auf den Marktplatz trat. Sofort empfingen mich finstere Blicke zweier Wachen, deren Gesichter mir vertraut vorkamen. Mit einer etwas schnelleren Gangart hielt ich auf das Tor zu, war bald aus der Stadt heraus und am Rande der Wüste.

Kamisori hatte mir geraten, mich an der Küste entlang der Flussmündung des Kawa zu nähern. Die Sonne begann gerade mit ihren warmen Strahlen den Wüstensand anzuheizen. Langsam setzte ich mich in Bewegung und folgte der Küstenlinie. Dies erwies sich als sehr wohl tuend, da ich mich ab und zu im Meer abkühlen konnte. Gegen Mittag machte ich Rast und öffnete meinen Beutel mit den Essensrationen. Ich fand getrocknete Fische, einige Portionen mit Sojabohnen und natürlich Reis. Die 90 Goldstücke konnten hier auf dieser Welt nicht viel Wert sein. Auf der Erde hätte man davon viele Wochen leben können. Hier konnte ich davon gerade zwei Tage überleben. Nein, ich wollte noch nichts essen. Die Nahrung durfte nicht verschwendet werden, dazu war sie zu kostbar. Nach einer kleinen Pause machte ich mich wieder auf den Weg. Ab und zu stieg ich auf eine hohe Sanddüne, um mir einen besseren Überblick über die Landschaft zu verschaffen. Ich hatte die Bucht gerade umrundet und befand mich auf der gegenüber liegenden Seite von Watashibune. Richtung Norden erstreckte sich die in sengender Sonne flimmernde Wüste, und als ich nach Südwesten blickte, bemerkte ich einen dunklen Streifen am Horizont, der von einem Gebirge zu kommen schien. Kamisori hatte davon berichtet, dass hinter dieser Gebirgskette das Kloster Hayagake-do lag. Dort hatte er in seinen jungen Jahren gelernt, wie man sich, ohne müde zu werden, bewegen konnte. Auf diese Weise konnte er bis zu 48 Stunden lang wach bleiben. Diese Fähigkeit war nur durch eine spezielle Ausbildung zu erlangen und kostete natürlich viel Gold. Doch Hayagake-do war nicht mein Ziel, und so wanderte ich weiter, bis ich am Abend die Mündung des Flusses Kawa erreichte.

Laut Legende befand sich in seinem Knotenpunkt die Burg Takedo, unter dessen Gemäuern die Urquelle des Lebens lag. Irgendwo musste ja schließlich das Wasser her kommen, das sich wieder in den Abgrund ergoss. All diese Informationen hatte ich von Kamisori, der seltsame Dinge über die Welt zu wissen schien, von denen bestimmt die Hälfte erlogen war.

Mein Ziel war die große Brücke des Kawa, die ich am nächsten Tag zu erreichen hoffte. Von dort gelangte man in das Land der sieben Seen und zum Baum des ewigen Lebens. Doch dazwischen lag noch eine Nacht, die ich zu überleben hatte, denn Kamisori warnte mich vor den Geschöpfen der Wüste, die des Nachts aktiv wurden. Da gab es schwarze Wolken, die einen im Schlaf überraschten, und große Vampire. Mein Problem bestand darin, dass ich keine Waffe bei mir hatte. Eigentlich war es ein Glück, dass ich niemandem auf dem Weg begegnete. Nun galt es, einen Schutz für die Nacht zu finden. Dies erwies sich als äußerst schwierig, da es nirgends eine Art Höhle oder ein Gestrüpp gab, wo man Schutz hätte finden können. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich im Sand einzugraben und mich auf mein Glück zu verlassen.

Mitten in der Nacht weckten mich seltsame Geräusche auf. Die Monde warfen ein Dämmerlicht auf den Strand und enthüllten ein großes Wesen mit einem schlangenartigen Körper. Es sah so aus, als ob es an den Strand gespült worden sei und jetzt nicht mehr ins tiefere Wasser kam. Der Form nach zu urteilen musste es sich um eine Seeschlange handeln. Solche Fabelwesen waren mir natürlich nur aus Büchern bekannt, daher wusste ich auch, dass sie der Legende nach Abkömmlinge der gewaltigen Drachen waren, die Japan einst heim gesucht hatten. Es musste verletzt sein, denn es wand und krümmte sich noch lange, bevor der Körper erschlaffte.

Am nächsten Morgen bot sich mir ein schreckliches Bild: Es war tatsächlich eine Seeschlange gewesen. Sie war an den Folgen eines Kampfes gestorben. Das jedenfalls zeigten die langen Wunden an Kopf und Bauch. Ich mochte lieber nicht daran denken, welches Wesen noch stärker sein konnte als die Seeschlange. Ich überwand meine Übelkeit und trat näher. Der Bauch war aufgerissen, und es lagen verstreute Taschen und Bündel herum. Ich traute meinen Augen nicht. Dieses Monster schien schon viele Menschen auf dem Gewissen zu haben. Ich hütete mich wohl, die Schlange noch weiter zu untersuchen, und öffnete nur zwei Taschen. Ich hatte Glück, denn ich fand 40 Goldmünzen und einen Dolch, der mir fürs Erste gute Dienste leisten mochte.

Zufrieden machte ich mich auf den Weg, immer an der Küste entlang Richtung Norden. Das westliche Ufer kam im Laufe des Tages näher und verriet, dass ich die Flussmündung schon lange hinter mir gelassen hatte. Ich folgte dem Flusslauf also weiter und bemerkte, wie am anderen Ufer die Berge den Hügelketten von Yo-sing wichen, welche sich später in bewachsene Hügel mit dunklen Wäldern verwandelten.

Die Sonne stand schon tief, als ich die Brücke über den Kawa erreichte. Hier würde ich Schutz für die Nacht finden. Außerdem war ich bewaffnet. Mit meinem Dolch traute ich mich natürlich nicht, eine Seeschlange anzugreifen, aber unerwünschte Besucher kleinerer Größe würde er schon abhalten. Die Brücke überspannte den Fluss in einer Breite von etwa 100 Metern und war aus Bambusholz gefertigt. Ein gewaltiges Bauwerk, wie mir schien. An seinen Pfeilern schien ein gemütliches Plätzchen zu sein, und ich begann, die kleine Böschung herunter zu klettern.

Unten herrschte bereits ein Halbdunkel, und ich hörte meinen Angreifer erst, als es zu spät war. Etwas unsachte wurde mein Bein weggezogen und es legte sich eine lange Klinge an meine Kehle, die mir allmählich die Luft nahm. «Was wollt ihr hier?» zischte eine Stimme aus dem Halbdunkel. Ich war sprachlos. «Antwortet!» Der Druck wurde stärker. «Ich habe ein Nachtlager gesucht», brachte ich hervor. Das entsprach ganz den Tatsachen. «Woher kommt ihr?» fragte die Stimme. Ich sagte mir, dass ich diesmal wohl einen Ort nennen sollte, der meinem Gegner bekannt war. «Aus Watashibune.» «Wohin wollt ihr?» «Ich bin auf dem Weg nach Takedo und suche die Göttin Benten.» Der Griff lockerte sich ein wenig, und ich bekam etwas mehr Luft. «Wer schickt euch?» mein Gesprächspartner war sehr neugierig. «Mich schickt niemand. Ich komme von Kamisori, einem ehrbaren Heilkundigen der Stadt, der mich auf den Gedanken brachte, nach Takedo zu gehen.» «Kamisori!» rief der Angreifer. Ich sah mein kurzes Abenteuer schon beendet und erwartete jeden Moment meinen Eintritt ins Nirwana. «Wie geht es ihm?» rief mein Angreifer freudig überrascht und nahm das Schwert von meiner Kehle. «Gut», sagte ich gequält und rieb mir den Hals. Jetzt begann ich zu fragen: «Wer seid ihr?» Der Mann trat ins Licht. «Mein Name ist Yodako. Verzeiht bitte meine Unhöflichkeit, aber die Zeiten sind schlecht. Wenn ich jedoch gewusst hätte, dass ihr ein Freund von Kamisori seid ... Er verneigte sich.

Yodako war ein Mann mittleren Alters, etwa Mitte 30, groß gebaut, gekleidet in eine reich beschlagene und bestickte Rüstung. An einer Seite trug er ein Katana. Dies waren seine einzigen sichtbaren Waffen. Ich verneigte mich ebenfalls und stellte mich vor. «Kamisori-sans Freunde sind auch meine Freunde», entgegnete er, wobei ich mir vornahm, dies nicht laut infrage zu stellen. Kamisori hatte mir zwar aus der Klemme geholfen, aber deshalb war er nicht mein Freund. Vielleicht war man auf dieser Welt schneller der Freund eines anderen, als ich dachte. Es hatte jedoch ohne Zweifel auch Vorteile. «Lasst uns das Nachtlager bereiten», schlug er vor und holte zwei Decken hervor, in die wir uns rollten.

Lange lagen wir wach, und er erzählte mir von seinen Abenteuern. Bei Akuji hatte er sein Schiff liegen, dessen Kapitän er war. Weit war er gereist, und viele Länder hatte er gesehen. Ich versuchte mitzuhalten und berichtete ihm von meiner zweitägigen Reise. Das beeindruckte ihn jedoch wenig, und er fuhr fort, von Ochi-na zu erzählen, wo der Tempel des Buddha Amida stand.

«Was habt ihr außer eurer Reise noch erlebt, Shimo-san?» wollte er gespannt wissen. Ich beschloss, ihm nichts von meinem Beruf als Staubsaugervertreter zu erzählen, sondern berichtete ihm von den beiden Statuen. «Erzähle mir von ihnen.» «Sie waren aus uraltem Stein. Mir kamen die Statuen sehr lebendig vor, obwohl sie doch so verwittert waren. Die Schrifttafeln wiesen sie als König und Königin aus. Der König trug in der rechten Hand eine Sasumata, die Königin hatte langes, gewelltes Haar. Sie sahen sich an und schienen doch ihre Umwelt zu beobachten. Die rechte Hand der Königin war abgebrochen. Viele Gelehrte stritten sich um die Entstehungsepoche. Auch ist der Künstler völlig unbekannt geblieben.» «Wo standen die Statuen, Shimo-san?» fragte Yodako mich. «In einer Stadt namens Tokio, die ihr nicht kennt», antwortete ich, «ich fand sie dort in einem Museum.»

Toshiro blickte von den losen Blättern auf. Er kannte das Museum! Er kannte auch die Statuen und den Streit der Wissenschaftler um das rätselhafte Auftauchen dieser Figuren! Wieso war ihm das nicht bei seinen früheren Lesungen aufgefallen? Wie war das möglich? Die Beschreibung der Statuen passte genau auf die beiden Figuren im Geschichtsmuseum. Dies war nur zwei Straßen weiter. Toshiro wollte noch heute Abend in das Museum, um sich den König und die Königin genauer anzuschauen. Jetzt wollte er erst einmal weiter lesen:

«Beschreibe sie genauer», drängte Yodako. Ich versuchte mein Bestes, und seine Mine hellte sich auf. «Ich kenne die Beiden. Das müssen der alte Tenno Subarashii und seine schöne Prinzessin Kikori Shiramoto sein.» Die Namen sagten mir überhaupt nichts. «Eine Prinzessin?» «Kikori Shiramoto verschwand vor einigen hundert Jahren. Viele Gelehrte und Weise machen sich noch heute Gedanken über sie. Mit ihr verschwand der König Subarashii ebenso plötzlich aus dem täglichen Geschehen. Sie soll sehr schön, aber auch einsam gewesen sein ... jedenfalls tat der Zauberer Tama-shita alles, um ihr Herz zu gewinnen und wollte für sie sogar den Spiegel der Erde aus dem Fels schneiden, woran er kläglich scheiterte. Im übrigen lehnte sie ihn sowieso ab, auch als er ihr anbot, den Stein von Toshi aus Hayashi-tori zu holen. Aus lauter Kummer verzog er sich schließlich in die Höhlenlabyrinthe von Kokoro-kazan, wo er bald starb.»

Langsam erstarb die Unterhaltung, und wir schliefen bald ein. Am nächsten Morgen entdeckte ich vier leblose Körper am Fuß der Brücke. Ungläubig betrachtete ich sie und kam zu der Erkenntnis, dass es sich, der Kleidung nach, um Ninjas handeln musste. Yodako gähnte, und ich erzählte ihm von meinem Fund. «Feiglinge und Anfänger!» schimpfte er, «Wer nachts kämpfen will, der muss die Kunst der Infravision beherrschen. Sie waren eine leichte Beute.» Er hatte sie also tatsächlich getötet, während ich schlief. Ich war jedoch neugierig geworden und löcherte ihn weiter: «Was ist Infravision?»

Nun begann Yodako zu erzählen: «Ich lernte sie auf einer Reise in den fernen Süden kennen. Damals wagte ich mich weit über den Kontinent der Sonne hinaus und hatte bereits die Stromschnellen von Shin-en hinter mir gelassen. Ich wollte den Süden erforschen und den südlichen Rand der Welt sehen. Ein böser Wind trieb mich jedoch vom Kurs ab, direkt in die Mündung eines kleinen Flusses. Da die Vorräte aufgebraucht waren, hoffte ich, dass ich eine menschliche Siedlung finden würde. Ich fuhr sehr lange, und die Felswände auf beiden Seiten wuchsen bis zum Himmel. Schließlich gelangte ich in einen großen See, der von Lavafeldern umgeben war. In der Mitte lag eine kleine Insel, auf der sich ein Kloster angesiedelt hatte. Es heißt Arfni-do, und dort lernte ich unter Leitung der Mönche die Kunst des Sehens in der Nacht. Es ist sehr hilfreich, da man die Feinde in der Dunkelheit an ihrem roten Schimmer leicht erkennt. Wenn man sehr geübt ist, dann bemerkt man fremde Wesen auch schon hinter Wänden. Doch nun lasst uns aufbrechen, denn gen Abend sollten wir auf meinem Schiff sein.»

Wir setzten uns wieder in Bewegung und überquerten die große Brücke. Am anderen Ufer angelangt, fanden wir uns am Rande eines Waldes wieder. «Wenn ihr durch diesen Wald geht, dann kommt ihr bald in das Gebiet der sieben Seen. Dort soll im Sumpand eines von 13 magischen Toren stehen. Um es zu benutzen, braucht man jedoch ein geweihtes, hölzernes Symbol, das genau in eine Vertiefung passen muss. Es ist jedoch sehr gefährlich, in ein solches Tor zu schreiten. Viele, die es versuchten, kamen nicht zurück. Meistens fand man sie auf anderen Kontinenten und in anderen Ländern wieder. Aber das soll uns jetzt nicht interessieren.

Wir ließen den Wald hinter uns und kamen an einen Seitenarm des Kawa. Der Fluss war aber noch zu breit, als dass man ihn schwimmend überqueren konnte. Er kam aus den Bergen, die jetzt schon bedrohlich nahe waren und sich hoch auftürmten. Yodako erzählte von einem großen Labyrinth, das in den Schluchten verborgen war, das Labyrinth von Ra.

«Weiter oben ist eine Brücke», deutete er mir. Die Brücken in Nippon waren anscheinend alle aus Bambus. Hier hatten wir ein Bauwerk vor uns, das mich stark an eine Hängebrücke erinnerte. Gegen Abend hatten wir den Fuß des Gebirges von Ra hinter uns gelassen und bemerkten vor uns einige Lichter in der Dunkelheit. «Das muss mein Schiff sein. Meine Leute halten sicher schon Nachtwache. Es ist eine zuverlässige Besatzung, die schon so manche Gefahren auf See überstand.» Freudig lief er voraus, und schon kam das Schiff in Sicht. Es sah aus wie eine kleine Galeere. In der Mitte hatte es einen Mast mit gerefften Segeln. Zu beiden Seiten ragten zehn Ruder gen Himmel. Am Ufer war der größte Teil der Mannschaft versammelt und bereitete gerade das Abendessen zu. Als wir näher kamen, wurden wir freudig begrüßt.

Ich wurde anfänglich noch skeptisch betrachtet, jedoch legte sich das Misstrauen, als Yodako mich vorstellte. «Wolltet ihr nicht nach Takedo, Shimo-san?» «In der Tat», antwortete ich, «ich suche die Göttin Benten, welche mich in meine Heimat zurück bringen soll.» Da meldete sich ein Mannschaftsmitglied zu Wort und meinte: «Ich stand schon einmal vor Bentens Thron. Damals hörte ich, dass sie Menschen half, die ihr Rätsel lösten. Einige schafften es sogar und gingen glücklich nach Hause. Ich konnte ihr Rätsel nicht beantworten. Deswegen sprach sie einen Fluch über mich, und ich verließ die Insel. Erst nach einem Kampf merkte ich, dass sich die Wunden nicht mehr schlossen. Lange musste ich suchen, um einen Heilkundigen zu finden, der mich von dem Fluch befreite. Ich fand ihn in Ubamachi, im hohen Norden auf der Insel der Ubas. Die Ubas sind ein schreckliches Volk, und ich betrat die Stadt nur ungern. Doch dort lebt eine Hexe namens Yotsusho. Sie erlöste mich, und ich konnte wieder genesen. Deshalb glaube ich nicht, dass euch Benten helfen wird.»

Es wurde ruhig am Lagerfeuer, und ich überlegte, was ich jetzt machen sollte. Meine Hoffnungen auf eine Rückkehr waren damit erst einmal zerstört. Doch Yodako bot mir plötzlich an: «Kommt mit uns, Shimo-san. Oya dato-san hat recht. Sie würde euch nicht helfen. Ich bringe euch nach Shin-en, der Stadt am Rande der Welt. Dort lebt ein Freund von mir. Sein Name ist Kyaku. Er ist der Besitzer des Cafés am Rande des Universums und sieht oft Dinge, die sehr seltsam sind.» Das wäre ja zumindest einen Versuch wert. Vor allem war ich gespannt darauf, wie der Rand einer Welt aussah. Dankbar nahm ich das Angebot an.

«Dann lasst uns schlafen gehen», entschied Yodako und stand auf, um an Bord des Schiffes zu gehen. Die Hälfte der Mannschaft folgte ihm, und ich schlief zum ersten Mal wieder in einem warmen Schlafstätte.

Die große Reise

Sehr früh am nächsten Morgen brachen wir auf. Yodako gab Befehl zum Segel hissen und wir legten ab. Oya dato, der gestern von Takedo und Benten berichtete, war der Steuermann, und er lenkte das Schiff in die Mitte des Flusses. Wir mussten die Ruderer zu Hilfe nehmen, da wir stromaufwärts fuhren. Wie schon erwähnt befindet sich unter Takedo die Urquelle des Wassers und des Lebens. Bald konnte man erkennen, dass sich der Strom teilte. Yodako und ich standen an der Reling.

«Genau vor uns liegt die Burg Takedo, Shimo-san. Man kann sie schon ausmachen, ihre Fahnen sind groß und weithin sichtbar. Rechts im Hügelland liegt das Dorf Ukosa. Dort soll sich der Eingang zum verborgenen Wald befinden. Er enthält meines Wissens auch eines der vielen magischen Tore.» «Welchen Weg nehmen wir?» fragte ich neugierig. «Wir werden den Gebirgsstrom Okawa entlang fahren. Dann müssen wir im Stromtal von Yamabito unsere Vorräte auffrischen.»

Jetzt war Takedo schon viel deutlicher zu erkennen. Es war eine gewaltige Festung mit unzähligen Zinnen, Türmchen, vielen Toren und Burggräben. Am linken Ufer sah man die Stadt Akuji im Schutz der Berge und Wälder liegen. Takedo war auf einer kleinen Insel erbaut worden, am Fuße eines gewaltigen Berges. Umgeben wurde die Festung von Sumpand. Überall sah man Wasser ausströmen und sich in die vier Seitenarme ergießen. Wir änderten unseren Kurs und hielten direkt auf den Okawa zu, der bald im Gebirge verschwand.

Yodako führte mich unter Deck in seine Kabine. Dort öffnete er eine kleine Schatulle und holte einige Schriftrollen heraus. «Hier sind meine Aufzeichnungen über all meine Reisen», erklärte er. «Wenn ihr mehr über unsere Welt erfahren wollt, so lest sie.» Ich war begeistert. Sofort setzte ich mich. Das würde mir die lange Seefahrt verkürzen. Yodako verschwand wieder an Deck, und ich hatte Ruhe, um seine Aufzeichnungen zu studieren. Zu meiner Freude waren auch mehrere Karten einiger Länder beigefügt sowie ein grober Umriss der Welt. Yodako war scheinbar weit gereist.

Ich begann zu lesen und war überrascht, als Yodako wieder herein kam und berichtete, dass wir gerade in Yamabito anlegten. Ich legte die Unterlagen also wieder zurück und kam an Deck. Dort wurden gerade die Vorbereitungen zum Anlegen getroffen. Yamabito war eine Stadt, die in einem Seitental des Okawa lag. Sie war umgeben von einem Wassergraben. Die Bewohner begrüßten uns sehr freudig. Mir schien, dass diese Freude doch etwas übertrieben war, und sprach Yodako darauf an.

«Das ist normal. Sie leben in einem abgeschiedenen Tal und freuen sich über jede Art von Besuch. Deshalb bekommt man hier auch billig Verpegung. Sie selbst klagen stets über Langeweile. Da kommen Besucher gerade gelegen, da sie oft Neuigkeiten aus aller Welt bringen. Früher war Yamabito ein Handelszentrum, als es noch einen Pass über die Berge gab. Doch dieser wurde nach einem Beben zerstört. Seitdem fristen sie ein ödes Dasein.»

Die Einwohner kamen nun in großen Massen zum Anlegeplatz. Die Mannschaft war sehr freundlich und erzählte viele Geschichten, die sie erlebt hatte. Es war schon später Nachmittag, und am Abend waren die Vorräte wieder aufgefüllt mit Dörrfisch, Reissäcken und Frischwasser. Die Nacht verbrachten wir auf dem Schiff, obwohl wir von den Bewohner Yamabitos eingeladen wurden, in ihren Häusern zu übernachten. Yodako lehnte dies jedoch ab und erklärte mir, dass wir am Morgen früh aufzubrechen hatten und dass nicht allen Einwohnern zu trauen war. Es gab dort einen geheimen Ninja-Clan, der uns hätte gefährlich werden können. Er wollte kein Risiko eingehen. So blieben wir an Bord, und ich vertiefte mich am Abend in Yodakos Aufzeichnungen.

Von seiner weitesten Reise hatte er mir schon berichtet: Sie führte in den heißen Süden der Welt, in die Schule von Arfni-do. Insgesamt erhielt ich den Eindruck, dass Nippon klimatische Verhältnisse aufwies, die auf der Erde undenkbar waren. Der Norden schien eisig kalt zu sein. Je weiter man in den Süden vordrang, desto heißer wurde das Klima. Ich wurde an der Südküste des größten Kontinents an Land gespült. Wie ich auf den Karten sah, gab es noch einen weiteren Kontinent im Süden, der durchgehend von einem subtropischen Klima beherrscht wurde. Ausgedehnte Palmenwälder und Dschungelregionen überzogen dieses Land. Der Kontinent wurde der Kontinent der Sonne genannt, dem sich die Sonneninsel der Göttin Amaterasu-Omi-no-Kami im Westen anschloss. Yodako erzählte mir einmal, dass sie die Tochter von Benten war, jener Göttin, die die Welt erschuf. Keiner konnte die Insel betreten, da sie nur von Bergen umgeben war. An der Küste lag das Dorf Kami-no-mura.

Vor langer Zeit überflutete eine große Welle das Land und vernichtete fast eine ganze Stadt. Der Kontinent war stets der Dorn im Auge eines sehr mächtigen Gottes, der Hachiman genannt wurde. Yodako senkte stets seine Stimme, wenn er von ihm sprach. Hachiman vernichtete auch das Dorf Yogan-Haikyo an der Südküste des Kontinents der Sonne. Er beschwor einen Vulkan herauf, der das Dorf in Schutt und Asche verwandelte.

Nachdem Yodako in Arfni-do die Kunst des Sehens in der Nacht erlernt hatte (was ihn im Übrigen zwei Jahre des Lernens kostete), zog er weiter. Er fuhr den langen Gebirgsfluss zurück und bemerkte auch jetzt wieder die vielen Pässe, die seitlich in die südlichen Regionen führten. Doch Yodako setzte seinen Weg fort, und als er die Mündung des Flusses verließ, um auf das offene Meer zu fahren, sah er am Horizont die große Insel von Yaku. Er landete an einem Waldstück und rüstete eine Expedition aus. Hier kamen ihm seine soeben erlernten Fähigkeiten zu Gute, denn er machte sehr frühzeitig eine Gruppe von Behemoths aus, die auf Beutezug waren. Er umging sie geschickt und fand sich am Rande eines Lavafeldes ungeheuren Ausmaßes wieder. Doch es schien ein Weg durch die Lavamassen hindurch zu führen. Er führte direkt in das Innere des Vulkans hinein. Die Gruppe, bestehend aus fünf Samurais, fand auf diese Weise die Stadt Kokoro-Kazan. Es war schwer hinein zu kommen, da viele Höhlenlabyrinthe den Berg durchzogen. Sehr bald gab er entmutigt auf und trat den Rückweg an. Dann nahm er schließlich seine Reise wieder auf und segelte gen Norden, wo er bald in das überschwemmte Land des Sonnenkontinents kam. Dort lebte Yodako ein Jahr in Janguru. Mir fielen schon fast die Augen zu, und so schloss ich die Schatulle wieder und verstaute sie an ihrem Platz. Dann ging ich in meine Kabine und schlief ein.

Am nächsten Morgen weckte mich das unsanfte Schütteln des Schiffes auf. Yodako hatte also schon abgelegt. Als ich an Deck kam, sah ich das verbissene Gesicht von Oya-dato, der krampfhaft versuchte, das Schiff von den Felsen fernzuhalten. Wir waren in die Stromschnellen des Okawa geraten. Die Berge waren hier nicht mehr so hoch, und man konnte in der Ferne einen Waldstreifen ausmachen. Die Hälfte der Besatzung stand an der Reling und genoss die Fahrt mit grünlichen Gesichtern. Eine seefeste Besatzung!

Jetzt blieben die Berge hinter uns, und der Strom trieb uns stetig auf das offene Meer hinaus. Ein dunkler Wald umgab uns jetzt. So fuhren wir etwa eine Stunde, als plötzlich das Meer in Sicht kam und der Strom uns förmlich ausspuckte. Wir fanden uns in einer riesigen Bucht wieder; im Nordosten sahen wir einen Vulkan glimmen. Yodako ließ das Segel setzen und nahm Kurs auf das offene Meer, Richtung Südost. Ich stieg wieder in die Kabine, um mit meinen Lesungen fort zu fahren.

Nachdem Yodako ein Jahr lang in Janguru lebte, packte ihn wieder die Abenteuerlust, und er kaufte sich ein Schiff bei dem ortsansässigen Bootsbauer. Eine Besatzung war schnell angeheuert, und so setzte er die Reise fort. Es dauerte ziemlich lange, bis er aus dem Gewirr der Sümpfe und Flüsse heraus auf die offene See kam. Bald erreichte er den Felsenkranz von Hayagake-do und orientierte sich an der Küste, die er entlang fuhr. Das Gebiet der sieben Seen lag rechts von ihm, und er segelte sehr lange Richtung Norden, bis er endlich das bewaldete Kap erreichte, in der die Stadt Ochi-na lag. Sie befand sich am Fuße des Gebirges von Ra. Vom Meer aus war sie nicht zu sehen. Nach längerem Aufenthalt segelte Yodako in den Seitenarm des Kawa, der von der Burg Takedo ausging. Die Fahrt ging vorbei an dem Seiten-Tal des Labyrinths von Ra, an dessen Ende Fujokawa, die Burg des Gottes der Erde, lag. Hier sollte auch der Eingang zum Labyrinth sein, das ein Geheimnis barg.

Schließlich fuhr er den Kawa hinunter und verließ das Schiff, um in Tokoro-chian den Weisen Yosutebito zu besuchen. Auf dem Rückweg war ich ihm begegnet. Ich verschloss die Aufzeichnungen wieder und betrat das Deck des Schiffes. Wir hatten die Bucht inzwischen schon hinter uns gelassen und befanden uns auf offener See.

Da die Fahrt sehr eintönig verlief, fragte ich Yodako, ob er nicht Papier und Feder hätte, damit ich etwas schreiben könne. «Natürlich, Shimo-san. Was gedenkt ihr denn zu Papier zu bringen?» «Ich werde, ähnlich wie ihr, meine Geschichte niederschreiben für den Fall, dass ich nicht zurück kehren kann. Dann werde ich sie in den Abgrund werfen, in der Hoffnung, dass sie jemand in Raum und Zeit finden und lesen wird.» «Ein sehr weiser Entschluss, Shimo-san. Kommt mit! Ich werde euch das nötige Material geben.» Damit ging er voran und brachte mir die gewünschten Utensilien. Am späten Abend erst unterbrach ich meine Aufzeichnungen und legte mich bald darauf zur Ruhe. Die Wellen des Meeres sorgten dafür, dass ich sehr schnell in einen wohltuenden Schlaf verfiel.

Gegen Mittag wachte ich wieder auf und stellte an Hand des Kartenmaterials fest, dass wir die ganze Nacht hindurch gesegelt sein mussten, denn wir drangen schon weit in den Süden vor. Vor uns lag die verwunschene Insel. Hier tobte einst ein Krieg zwischen den Menschen und dem Gott Hachiman. Dabei ging es um eine kleine Perle, die sehr mächtige Kräfte zu haben schien. Die Menschen versteckten sie vor Hachiman, und er musste schließlich aufgeben. In einem letzten Akt von Wut verfluchte er die Insel und ließ einen tödlichen Sumpf darauf wachsen, dessen Dämpfe eine schwächende Wirkung entfalteten. Die Perle von Ki fand man bis heute nicht. Auf der Insel überlebten die Menschen nur noch in zwei Siedlungen: Mawari-michi, die große Stadt, und Sawa-byoki, das Dorf an der Südspitze.

Wir änderten den Kurs und steuerten zwischen den Südinseln hindurch den Kontinent der Sonne an. Als es zu dämmern begann, ließ mich Yodako an Deck holen und zeigte nach Steuerbord. «Seht ihr die große Nebelwolke am Horizont?» «Ja, in der Tat. Was ist das?» «Das ist das Heim von En-no-gyoja. Der Meister bewohnt auf einer Insel ein kleines Heim und bildet dort Shugenjas aus. Die Insel taucht niemals aus dem Nebel auf. Nur Auserwählte können sie betreten. Alle anderen schickt der Meister in einen Schlaf und lässt das Schiff in eine Strömung fahren, die es von der Insel wegführt.»«Seid ihr jemals dort gewesen?» «Ja. Mir widerfuhr genau das, wovon ich eben berichtete.» «Was lehrt der Meister die Leute, die zu ihm kommen?» fragte ich neugierig. «Ich weiß es nicht. Es ist ein streng gehütetes Geheimnis der Shugenjas.»

Langsam versank die Nebelinsel im Dunkel der Dämmerung. Ich ging wieder an die Arbeit. «Land in Sicht!» rief der Ausguck am Bug des Schiffes. Ich eilte nach oben. Zwei Tage waren jetzt schon vergangen, seit wir an der Insel des Nebels vorbei segelten. Jetzt war der Kontinent der Sonne in Sicht. Es war schwül geworden, und die letzte Nacht wurde ich fast von Moskitos aufgefressen. Die Berge, die ich ausmachte, mussten das Ostgebirge bilden, welches den Kontinent wie ein Schildwall umgab. Weit konnte es nicht mehr sein, bis wir nach Shin-en kamen. Jetzt mussten wir vorsichtig manövrieren, da es auch hier schon tückische Strömungen gab, die einen in den Abgrund ziehen konnten.

Gegen Mittag hatten wir das Ostgebirge so weit umrundet, dass im Süden eine Landzunge in Sicht kam, auf der eine Stadt lag: Shin-en. Endlich waren wir dort! Von Backbord kamen seit geraumen Stunden seltsam tosende und rauschende Geräusche. Dort war die Sicht auch durch Nebelschwaden erschwert. Das war der Abgrund! Nie war ich dem Rand der Welt so nahe. Die Landzunge schien sich sehr weit in den Abgrund vorzuwagen, sie schien ihn fast zu berühren.

Dann legten wir an. Es herrschte ein reges Treiben in Shin-en. Viele Geishas liefen hin und her und Händler priesen ihre Ware an. Groß war Shin-en nicht. Yodako schritt voran, nachdem er seine Mannschaft Instruktionen gegeben hatte. Er ging ziemlich zielsicher die Straße hinunter. Viele Geschäfte konnte ich ausmachen. Waffenschmiede, Beschwörer und Sklavenhändler. Es gab sogar eine Attraktion in der Stadt: Ein Samurai bot eine Bootsfahrt in einem großen, künstlichen Bassin an. Das besondere daran war, dass es sich hierbei keineswegs um natürliches Wasser handelte, sondern um ein Wasser, das Schatten warf. Man konnte nicht in das Becken schauen, da die Sicht wie von einer dunklen Wand versperrt wurde. Viele Leute standen Schlange und wollten eine Bootsfahrt machen. Yodako meinte, es wäre nichts Besonderes. Man würde sich höchstens wie in einem dunklen Tunnel vorkommen.

Am Ende der Straße lag das Restaurant. Yodako nannte es «das Café am Rande des Universums». Die Tür stand offen, und es kamen viele Stimmen aus dem Inneren. Zielstrebig betraten wir das Café und setzten uns an ein leeren Tisch. Uns wurde Tee gebracht, und Yodako verlangte, den Inhaber, einen gewissen Kyaku, zu sprechen. Bald darauf trat ein kleiner Mann an unseren Tisch. Er war sehr jung und trug weiße Gewänder. «Konnichi-wa, Yodako-san», begann er, «Was führt euch zu mir?» «Mein Weggefährte Shimo-san benötigt euren Rat», erwiderte Yodako und begann mein Problem zu schildern. Kyaku setzte sich nachdenklich an unseren Tisch und hörte aufmerksam zu. Dann begann er:

«Ich fürchte, ich kann euch dabei nicht helfen! Es ist wahr, dass ich viele Dinge über die unendlichen Tiefen des Abgrundes weiß, aber mein Wissen erstreckt sich nur über Dinge, die unsere Welt betreffen. Viele Leute sind in den Abgrund gesprungen, einige aus Verzweiflung, andere aus Überzeugung, in eine andere Daseinsebene vorzustoßen. Natürlich hat nie jemand etwas über ihr Schicksal berichten können. Des Nachts scheinen manchmal ferne Geräusche aus dem dicken Nebel zu ertönen und seltsame Bilder entstehen aus den Schwaden, doch können das auch Einbildungen sein, die der ewige Lärm des fallenden Wassers und die bizarren Formen des Nebels hervorrufen. Ich weiß leider keinen Rat für euch, Shimo-san.»

Dann wurde es sehr ruhig an unserem Tisch, und alle schauten betroffen zu Boden. Sollte ich denn nie wieder in meine Welt zurückkehren? Nie wieder meine alten Freunde sehen?

«Tragt ihr euch immer noch mit dem Gedanken, eure Schriften in den Abgrund zu werfen?», fragte Yodako leise. «Das werde ich tun. Vielleicht findet sie jemand. Vielleicht wird diese Geschichte einmal mein Verschwinden aus meiner Welt erklären können.» Ich zog die Papierrollen unter meinem Gewand vor. An Bord hatte ich die Landkarten kopiert und den Schriftstücken beigefügt, damit meine Geschichte nicht leer im Raum stand.

Kyaku stand auf und deutete auf eine große Doppeltür am Ende des Raumes. Langsam setzten wir uns in Bewegung und traten hinaus ins Freie. Eine kleine Plattform mit Geländer ragte fast bis an die Nebelwand heran. Unter uns toste das Wasser und ergoss sich in die Tiefe.

Diese Zeilen, die ich jetzt schreibe, sind die Letzten. Wenn sie jemand liest, werde ich wohl im Lande Nippon herum ziehen, immer auf der Suche nach einer Möglichkeit zur Rückkehr. Vielleicht sind diese Zeilen ja einmal in dem alten Buchladen zu finden, der in einer Seitenstraße von Tokio stand, in dem alles anfing.

Toshiro wurde schwindelig. Buchladen? Könnte es DIESER Buchladen sein? Saß Shimo vielleicht einmal an diesem Tisch? Es wäre möglich. Hier endeten die Zeilen. Sie hatten ihren Weg in diese Welt gefunden. War das der Weg? Hatten die Leute recht, die in den Abgrund sprangen? Waren vielleicht die Menschen, die immer von einer anderen Welt jenseits der Fantasie redeten, keine Spinner, die man in psychiatrische Anstalten stecken musste? Sie konnten ihren Weg ebenso gefunden haben wie diese Pergamente.

Das alles klang so unmöglich, aber es traf zu. Die Statuen entsprachen genau der Beschreibung. Die Prinzessin! Was war mit ihr geschehen? Er musste sie suchen, aber wieso? Sein gesunder Menschenverstand sagte ihm, dass er fantasierte. Wie sollte er das jemals bewerkstelligen? Vielleicht war es eine Art Vorwand, um nach Nippon zu gelangen ... Toshiro war fest entschlossen, in das Museum zu gehen, um die Säulen zu untersuchen.

Draußen war es dunkel. Er schaute auf die Uhr: Es war schon nach Zehn. Das Museum musste geschlossen sein. Er trat hinaus auf die Straße. Seine Schritte wurden schneller. Außer Atem kam er am Museum an ... geschlossen. Toshiro ging aufs Ganze. Er umrundete das Gebäude und warf kurzer Hand die Scheibe mit einem Ziegelstein ein. Wieso tat er das? Wenn er sich irrte, würde er viel zu erklären haben. Die Alarmanlage schrillte los. Rasch schlüpfte er durch das Fenster und befand sich in einer spärlich durch Leuchtreklame erhellten Museumshalle. Ein paar Momente der Orientierung vergingen. Viel Zeit hatte er nicht. Er durchquerte zwei Hallen und blieb wie angewurzelt vor zwei riesigen Statuen stehen. Die eine hielt eine große Stangenwaffe, der anderen fehlte der rechte Arm. Sie beobachteten ihn. Sie sahen ihn nicht direkt an, aber sie beobachteten ihn. Toshiro hörte Schritte in der Eingangshalle. Wer sollte ihn jetzt noch aufhalten? Zwischen den Säulen war eine Stelle undurchdringbarer Schwärze. Das musste es sein ... Zielstrebig schritt er darauf zu. Dann fiel er in eine unvorstellbare Tiefe, vorbei an Sternen, Planeten, Sonnensystemen, durch Galaxien hindurch in eine schwarze Tiefe. Er verlor das Bewusstsein.

Als Toshiro die Augen öffnete, sah er sich unbekleidet an einem Fluss liegend. In der Ferne sah er Berge und Wälder. Am anderen Ufer stand eine Burg mit unzähligen Türmchen und Zinnen. Viele Burggräben und Tore schützten die Festung. Er hatte das alles schon einmal gesehen ...